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Wie simuliert man den Digitalen Zwilling des Herzens?

08.02.2024 | Planet research | FoE Information, Communication & Computing

Von Philipp Jarke

Thomas Pock vom Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen erklärt im Interview, was Steine-in-einen-See-Werfen mit der Aktivierungssequenz des Herzschlags zu tun hat und wie diese schon bald anhand von EKG-Daten personalisiert gelernt werden kann.

Im Projekt CardioTwin will Thomas Pock bei der Rekonstruktion der Herz-Aktivierungssequenz weitere Variablen berücksichtigen und zugleich die Simulationen beschleunigen. Bildquelle: Lunghammer - TU Graz

News+Stories: Wie kommt man zu einem digitalen Zwilling des Herzens?

Thomas Pock: Den Digital Twin des Herzens haben wir in den vergangenen Jahren im Rahmen eines BioTechMed-Kooperationsprojektes unter der Leitung von Gernot Plank von der Med Uni Graz entwickelt. Zunächst braucht es dafür ein digitales Abbild der Anatomie jenes Herzens, das simuliert werden soll. Denn das Herz jedes Menschen ist einzigartig, Größe und Form variieren, pathologische Herzen sind mitunter anatomisch stark verändert. Dieses Abbild wird mit Hilfe von Computertomographie und Magnetresonanzbildern erstellt.

Selbst für Mediziner ist es dabei schwierig, genau festzustellen, wo die Grenzen des Herzens liegen: Wo geht es über ins Gewebe, wo ist das Herz angebracht und wie groß sind die Kammern? Das im digitalen Abbild zu berücksichtigen, ist gar nicht so trivial. Dafür wurden verschiedene Algorithmen entwickelt, mittlerweile wird überwiegend Maschinelles Lernen eingesetzt.

Wie kann Maschinelles Lernen dabei helfen?

Thomas Pock: Man muss dazu erst einmal sehr viele Herzen tomographisch aufgenommen haben und per Hand in die verschiedenen anatomischen Bereiche segmentieren, z.B. Herzkammern oder -klappen. Diese Bilddaten und Informationen bilden die Lerndaten, auf Basis derer dann aus neuen, patientenindividuellen Daten mit guter Genauigkeit das Herz segmentiert werden kann.

Woran war Ihr Team besonders stark beteiligt?

Thomas Pock: Wir haben die Aktivierungssequenz des Herzens simuliert. Der Herzschlag wird durch eine elektrische Welle ausgelöst. Diese Welle startet und durchläuft dann verschiedene Punkte im Herz, wie den Sinusknoten, den AV-Knoten und das Purkinje-System – das diskrete Reizleitungssystem der Hauptkammern. Zudem gibt es weitere Faktoren, die man bei der Simulation berücksichtigen muss. Zum Beispiel breitet sich die elektrische Welle entlang der Muskelfasern schnell aus, quer zu ihnen eher langsam. All diese Faktoren ergeben zusammen die Kontraktion der Muskelfasern aufgrund elektrischer Stimulation, die das Pumpen hervorruft. Wir haben auf Basis der an der Herzoberfläche gemessenen Ankunftszeiten dieser Wellen die patientenindividuelle Aktivierungssequenz des gesamten Herzens rekonstruiert.

Wie aufwendig ist so etwas?

Thomas Pock: Das ist so kompliziert, wie wenn man den Eintauchpunkt eines in einen See geworfenen Steines und die sich danach ausbreitende Welle nur anhand der Wasserstandsänderung am Seeufer rekonstruieren möchte. Das ist ein sogenanntes inverses Problem.

Wie haben Sie dieses Problem gelöst?

Thomas Pock: Es fließt viel Vorwissen über das Herz in die Entwicklung der Simulation ein, das der Herzmodellierungsexperte Gernot Plank mit seinem Team in das Projekt eingebracht hat. Prinzipiell beginnt man mit einem stark vereinfachten Modell, bei dem der Ausgangspunkt der elektrischen Welle und deren Endpunkte am Rand des Herzens bekannt sind – daraus rekonstruiert man die Wellenausbreitung. Diese Rekonstruktion bildet die komplexen Abläufe im Inneren des Herzens mit all den Segmenten und Strukturen natürlich noch nicht korrekt ab. Dafür sind anschließend viele Entwicklungs- und Implementierungsschritte notwendig. Wir haben dazu einen Algorithmus entwickelt, der aus den realen Messdaten am Herzen die Aktivierungssequenz sehr genau rekonstruieren kann. Die Basis der Berechnungen bildet die sogenannte Eikonalgleichung, die ganz generell die Ausbreitung von Wellen beschreibt und auch für die elektrische Welle im Herz gut geeignet ist.

Wie gelingt es, dass so ein Algorithmus der Realität nahekommt?

Thomas Pock: Man beginnt mit einer noch unzureichend genauen Gleichung und vergleicht den errechneten Wert der Simulation mit dem realen, am Herzen erhobenen Messwert. Den Abweichungsfehler gibt man an den Lern- bzw. Optimierungsalgorithmus zurück und verändert die Simulationsparameter so, dass der Fehler kleiner wird. Diese Schritte werden so lange wiederholt, bis die simulierten und realen Werte möglichst gut zueinanderpassen.

Vor einigen Wochen haben Sie das Anschlussprojekt „CardioTwin“ gestartet, in dem Sie sich weiterhin der digitalen Abbildung des Herzens widmen. Woran werden Sie konkret arbeiten?

Thomas Pock: Auch in diesem vom FWF und SNF geförderten Nachfolgeprojekt arbeiten wir mit Gernot Plank zusammen, hinzukommen Kooperationspartner aus der Schweiz. Inhaltlich wird es wichtige Neuerungen geben: Im Vorgängerprojekt haben wir die Aktivierungssequenz in gesunden Herzen rekonstruiert und simuliert. In CardioTwin erweitern wir die Methoden für verschiedene Krankheitsbilder, um die klinische Relevanz der Modelle zu erhöhen. Insbesondere werden Herzen modelliert von Patient*innen mit Reizleitungsstörungen und von Patient*innen, die einen Herzinfarkt überlebt haben. Nach einem Herzinfarkt etwa gibt es vernarbtes Gewebe, das die elektrische Welle teilweise blockiert. Die Welle muss um die Narben herumlaufen, wie Wellen um eine Insel in einem See.

Als zweite Neuerung nutzen wir zukünftig nicht Messwerte, die bei geöffnetem Thorax direkt an der Herzoberfläche erhoben werden, sondern Daten von nichtinvasiven Elektrokardiogrammen, kurz EKGs. Jedes EKG besteht aus Potenzialverläufen mit sehr charakteristischen Formen, die an der Körperoberfläche abgeleitet werden. Und aus dieser Information möchten wir die Ausbreitung der elektrischen Welle im Herzen individuell für Patient*innen rekonstruieren.

Außerdem wollen wir in CardioTwin die Aktivierungssequenz des Herzens grundsätzlich noch besser modellieren. In der Simulation kann man die Eikonalgleichung mit Hilfe eines sogenannten Diffusionsterms erweitern. Im digitalen Abbild des Herzens kommt es dadurch zu einer Diffusion der Ströme, wodurch die Berechnung zwar komplexer wird und schwieriger zu lösen ist, aber zugleich der Realität noch näherkommt.

Je komplexer die Simulation, desto länger werden wahrscheinlich auch die Rechenzeiten?

Thomas Pock: Das ist so. Daher ist es unser Ziel, die Lösungsverfahren der Gleichungen zu optimieren, um dadurch die Simulationen zu beschleunigen. Wenn eine Simulation eine Stunde dauert, ist sie in der Praxis unbrauchbar. Das muss praktisch in Echtzeit gehen.

Warum so schnell?

Thomas Pock: Man kann die Auswirkungen von Operationen vorab prüfen: Was passiert, wenn man beispielsweise einen Schrittmacher einsetzt. Wie ändert sich dadurch der Blutfluss? Wo entstehen welche Drücke? Wo gibt es Probleme? Wenn solche Werte in Echtzeit berechnet werden, kann man zum Beispiel vor einer Operation verschiedene Positionen des Herzschrittmachers gegenüberstellen und miteinander vergleichen, um das Optimum für die Patientin oder den Patienten zu ermitteln.

Wann kann der digitale Zwilling des Herzens routinemäßig vor und während Operationen eingesetzt werden?

Thomas Pock: Das wird noch eine ganze Weile dauern. Im Moment ist unsere Arbeit noch im Stadium der Grundlagenforschung. Aber das langfristige Ziel ist natürlich, den Digital Twin in klinische Studien zu bringen und anschließend in die klinische Praxis.

Dieses Forschungsprojekt ist im Field of Expertise „Information, Communication & Computing verankert, einem von fünf strategischen Schwerpunktfeldern der TU Graz.

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Kontakt

Thomas POCK
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn.
TU Graz | Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen
Tel.: +43 316 873 5056
thomas.pocknoSpam@tugraz.at