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Bremsen als Feinstaubschleudern

14.05.2021 | Planet research | FoE Mobility & Production | TU Graz news | Forschung

Von Susanne Eigner

„Wir haben ein Problem, von dem niemand weiß, wie groß es ist“, sagt TU Graz-Forscher Peter Fischer. Fest steht: Bremsen verursachen mehr Partikelemissionen als Verbrennungsmotoren über ihre Abgase. Dennoch fehlen bislang Basiswissen und gesetzliche Reglementierungen.

Der Bremsvorgang reibt Masse von Bremsscheiben und -belägen ab. Dieser Abrieb geht als Feinstaub in die Umgebung über - und ist so gut wie unerforscht. © Lunghammer - TU Graz

Abgase aus dem Auspuff werden immer weniger, sauberer und sind in der Elektromobilität sowieso gar kein Thema mehr. Soweit, so beruhigend. Diese Emissionen von Verbrennungsmotoren sind ein seit Jahren bekanntes, öffentlich sehr präsentes Thema, für das es mit der Abgasnorm Euro 6 seit 2017/2018 EU-weit strenge Richtlinien gibt, die zu einer deutlichen Verbesserung geführt haben. Es gibt aber andere gesundheits- und umweltschädliche Partikelemissionen aus dem motorisierten Verkehr, über die wenig bekannt ist: Partikelemissionen aus dem Abrieb von Bremsscheiben und Bremsbelägen.

Mengenmäßig vor Abgasemissionen

Peter Fischer, Leiter des Instituts für Fahrzeugtechnik der TU Graz erklärt: „Sowohl auf den Kilometer als auch auf den gesamten Fahrzeug-Lebenszyklus gerechnet, liegt diese abgeriebene Masse weit über jener der Partikel, die ein Dieselfahrzeug innerhalb aller Normen und Grenzbereiche über den Auspuff emittieren darf. Das lässt sich relativ einfach über den gemessenen Masseverlust der vier Bremsscheiben und acht Bremsbacken mit entsprechenden Bremsbelägen und den Tauschintervallen abschätzen.“ Und dennoch führen diese Emissionen, die ebenso wie der Abrieb von Reifen und von Straßenbelag zu den sogenannten Nicht-Abgas-Partikelemissionen (Non-exhaust particle emissions) zählen, ein Schattendasein – nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch in Forschung, Politik und Industrie.


Will auf das drängende Problem Bremsabrieb aufmerksam machen: Peter Fischer vom Institut für Fahrzeugtechnik der TU Graz.

Prüfzyklus mit zu guten Werten

Es fehlen Basiswissen, es fehlen Messmethoden und es fehlen gesetzliche Reglementierungen – noch. Denn die EU will eine entsprechende Gesetzgebung voraussichtlich zwischen 2025 und 2027 verankern. Umweltorganisationen, Industrie und EU-Politik führen dazu schon erste Gespräche: Im Rahmen des Particle Measurement Programme (PMP) der Wirtschaftskommission für Europa UNECE wird aktuell an der Empfehlung für die Gesetzgebung, an dem Prüfverfahren und Prüfaufbau (nur am Prüfstand) gearbeitet. Bremsstäube sollen demnach auf der Basis von Messdaten von sogenannten WLTP-Prüfzyklen reglementiert werden (WLTP steht für „Worldwide Harmonized Light-Duty Vehicles Test Procedure“). Diese Zyklen am Rollenprüfstand sind jedoch weit entfernt von einem realen Fahrverhalten und liefern insgesamt viel zu gute Werte. „Unsere Befürchtung ist, dass man salopp gesagt an einem Fahrzyklus bastelt, der nicht dem realen Fahrverhalten entspricht und nur geringe Emissionen erzeugt. Insbesondere für bergige Gegenden, wo Bremsen extrem heiß werden und andere chemische Reaktionen ablaufen, würde eine Gesetzgebung basierend auf diesen Fakten kaum etwas an der Emissionssituation verbessern“, sagt Fischer.

Hörempfehlung: Im AirCampus-Podcast erklären Peter Fischer und Michael Huber, warum Bremsstaub erforscht werden muss.

Hochkanzerogene, hochtoxische Stoffe

Was kann man sich unter Bremsstaub vorstellen? Und wieso zerbrechen sich Fachleute wie Peter Fischer darüber den Kopf? Kurzum: Weil man nicht weiß, was drin ist. Es besteht der dringende Verdacht, dass die Partikel hochtoxisch sind. Es gibt zwar für die Materialzusammensetzung von Bremsscheiben und Bremsbelägen länderspezifisch grobe Richtlinien. Die Zusammensetzung im Detail ist aber von Hersteller zu Hersteller verschieden. „Wir kennen freilich die möglichen Ausgangselemente: Eingebettet in eine Kohlenstoffmatrix handelt es sich dabei zum Beispiel um Barium, Antimon, Kupfer, Zirkonium, Chrom, Zinn, Zink, Eisen oder Magnesium. In alten Bremssystemen hatte man sogar noch Blei gefunden. Man kann sich also vorstellen, dass bei heißen Temperaturen – Bremsen können bis zu 600 Grad Celsius erreichen und wortwörtlich glühen – heftige chemische Reaktionen stattfinden. Es entstehen kleinstmögliche Partikel, die direkt in die Umgebung geschleudert werden“, schildert Fischer.

Runde Sache? Bremsscheiben und Bremsbeläge enthalten eine Vielzahl verschiedener Stoffe, von A wie Antimon bis Z wie Zink.

Wieso ist Bremsstaub gefährlich?

„Wir befürchten hier wirklich Schlimmes. Es bilden sich beispielsweise aus den Kupferanteilen des Bremsbelages kleinste und hoch lungengängige Kupferoxidpartikel.“ Zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Verkehr-basierten Feinstaub-Emissionen auf das Herz-Kreislaufsystem (Koronare Atherosklerose, Asthma, Lungenkrebs etc.) gibt es bereits einige Studien. Zwar fokussieren sehr wenige Untersuchungen explizit auf Bremsenabrieb – weil dieser bisher eben noch schwer zu messen ist, dazu später mehr – aber aufgrund der Untersuchungen der Materialzusammensetzungen verschiedener Bremsen ist davon auszugehen, dass unter anderem ultrafeiner Bremsabrieb (UFP) für die genannten Gesundheitsfolgen verantwortlich ist.

Völlig unbekannt, was genau emittiert wird

Auch die Analyse dieser Emissionen bereitet Schwierigkeiten: Derzeit gibt es nur sehr rudimentäre Möglichkeiten, diese Bremsstaubpartikel direkt nach ihrer Entstehung einzufangen. Es fehlen Messmethoden und -instrumente, sowohl im Labor auf dem Prüfstand und erst recht während der Fahrt auf der Straße. Dazu Fischer: „Abgase sammeln sich ja praktischerweise im Motor, bevor sie über den Auspuff abgehen und dort über eine Sonde genau gemessen werden können. Bremsabrieb geht hingegen sofort in die Umgebung über. Er vermischt sich in der Sekunde mit anderen Partikeln, wird in die Umgebung geschleudert, verändert seine chemische Zusammensetzung oder verbrennt.“

Speziell bei längeren Bergabfahrten, vor Passkehren, im städtischen Stop-and-Go-Verkehr oder in anderen Situationen, in denen die Bremsen sehr heiß werden, kommt es nicht nur zu Masse-Abrieb, sondern auch zu chemischen Reaktionen der Partikel und Stäube. Bis dato ist aber völlig unbekannt, was hier genau geschieht und emittiert wird. „Gerade in alpinen Gegenden werden lokal mehr und chemisch andere, kritischere Emissionen auftreten, als in flachen Gegenden. Eine Reglementierung auf Basis kaum relevanter Szenarien und bei derartigen Wissenslücken wird für die alpine Immissions-Situation, für die Umwelt und für die Gesundheit so gut wie gar nichts bringen,“ betont Peter Fischer und ergänzt „Die Automotive-Industrie wird sich wohl an kommende Reglementierungen halten – aber gewiss nicht darüber hinaus aktiv werden“.

Zurück an den Start?

Was also tun? Eine Möglichkeit wäre, in das Bremssystem einzugreifen und gewisse Aspekte von Grund auf neu zu denken. „Wir können andere Beschichtungen nehmen oder andere Materialzusammensetzungen nutzen, freilich auf Basis genauer Untersuchungen zur Entstehung und Zusammensetzung von Bremspartikelemissionen.“ Aber: Ein Eingriff in das extrem etablierte System Bremse hat weitreichende Konsequenzen: „Bremssysteme werden seit rund 120 Jahren immer wieder optimiert. Es steckt immens viel Entwicklungsleistung drin. Das Credo ‚Zurück an den Start‘ sorgt da verständlicherweise für wenig Freudensprünge. Es könnte aber in manchen Bereichen die Notwendigkeit sein, wenn wir Licht in die dunklen, unerforschten Ecken werfen“, so Fischer. Betroffen davon wären die Messtechnikentwicklung, Gießereien, Fahrzeugentwicklung und -konstruktion, die Materialentwicklung und andere Branchen, die besonders in Österreich oder überhaupt im deutschsprachigen Raum durchaus stark vertreten sind.

Das Problem anpacken statt negieren

Peter Fischer will für das Thema sensibilisieren und appelliert insbesondere an die Politik, Fördergelder für entsprechende Forschung auf Grundlagenseite zugänglich zu machen. „Was wir bislang zum Thema Bremsstaub untersucht haben, haben wir uns mühsam von anderen Geldern abgezwackt und uns sprichwörtlich unter den Fingernägeln herausgespart. Für den großen Wurf braucht es nun finanzielle Förderungen und das Commitment mit der Industrie zu gemeinsamen Lösungen.“

Prüfstand zum Testen von Bremsen und Fahrwerken an der TU Graz.

In Graz sind die Voraussetzungen ideal: An der TU Graz gibt es langjährig aufgebautes Know-how zum Thema Bremssysteme, Prüf- und Messverfahrensentwicklung sowie Emissionen. Und auch die Industrie ist mit mehreren Automotive-Leitbetrieben – darunter Magna, AVL oder Miba – vor Ort zugänglich. An sie alle gerichtet betont Fischer: „Es bringt nichts, die Augen zu verschließen. Und der Bremsstaub wird auch mit den Elektroautos nicht verschwinden. Die bremsen zwar anders und grundsätzlich emissionsärmer, sind dafür aber schwerer, was wiederum mehr Bremsleistung erfordert. Wie man es dreht und wendet: Wir kommen um das Thema nicht herum. Bremsstaub ist real, er ist gefährlich und er gehört endlich gründlichst erforscht.“

Detailliertere Informationen zum Thema Bremsstaub liefert die Studie "Non-exhaust Particulate Emissions From Road Transport" der OECD.

Information

Betreut von Peter Fischer und in Kooperation mit der AVL erforscht Doktorand Michael Huber konkrete Möglichkeiten, den Bremsabrieb direkt nach seiner Entstehung einzufangen und zu entsprechenden Messvorrichtungen – die parallel von der AVL entwickelt werden – zu leiten.

Kontakt

Peter FISCHER
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn.
TU Graz | Institut für Fahrzeugtechnik
Tel.: +43 316 873 35200
peter.fischernoSpam@tugraz.at

Michael HUBER
Dipl.-Ing.
TU Graz | Institut für Fahrzeugtechnik
Tel.: +43 316 873 35240
michael.hubernoSpam@tugraz.at