Schrödingers Katze: Wenn Realität mehrdeutig ist
Warum gilt ausgerechnet Schrödingers Katze als ein gutes Anschauungsbeispiel für Quantenphysik?
Martin Schultze: Das liegt wohl daran, dass die Katze ein vertrautes und zugleich anschauliches Beispiel ist. In der klassischen Physik ist alles eindeutig: Eine Katze ist entweder lebendig oder tot. In der Quantenmechanik kann ein System über eine gewisse Zeit hinweg in mehreren Zuständen zugleich existieren – also gleichzeitig lebendig und tot sein. Diese sogenannte Superposition ist ein zentrales Merkmal der Quantenphysik. Erst wenn wir messen, also in die Kiste schauen, legt sich das System auf einen Zustand fest. Das klingt paradox, ist aber ein reales, experimentell bestätigtes Phänomen, das zeigt: In der Quantenwelt gelten andere Regeln als in unserer makroskopischen Erfahrungswelt. Daher würde die experimentelle Bestätigung mit einer echten Katze auch nie gelingen.
Kazuhiro Yabana: Schrödingers Katze ist auch deshalb so beliebt, weil sie die Grenze zwischen unserer Alltagserfahrung und der Quantenwelt verdeutlicht. In der theoretischen Physik ist klar: Die Quantenmechanik ist die grundlegende Theorie – die klassische Mechanik, die wir mit Newtons Gesetzen verbinden, ist nur eine Näherung. Sie funktioniert gut im Alltag, aber wenn man die Natur wirklich verstehen will, muss man sich mit der Quantenebene befassen.
Warum bemerken wir diese Quantenphänomene im Alltag nicht?
Schultze: Das hängt mit der Größe der Systeme zusammen. Je kleiner ein System ist – je weniger Teilchen beteiligt sind –, desto stärker treten die quantenmechanischen Effekte hervor. Bei großen Objekten, wie einer Katze oder einem Handy, verschwinden diese Effekte im Hintergrund, weil sich unzählige Teilchen gegenseitig beeinflussen. Aber wenn man einzelne Atome oder Elektronen betrachtet, dann versagen unsere gewohnten, klassischen Beschreibungen. Dort sieht man, dass sich die Natur anders verhält, als wir intuitiv erwarten würden.
Yabana: Man kann sagen: Die klassische Physik ist ein Spezialfall der Quantenphysik, der nur dann gilt, wenn die Systeme groß genug sind. In der mikroskopischen Welt ist die Quantenmechanik hingegen unverzichtbar. Ohne sie könnten wir viele Phänomene nicht erklären.
Wir Menschen wollen klare Antworten – ja oder nein, hier oder dort, lebendig oder tot. Quantenobjekte brauchen solche Eindeutigkeit aber nicht
Was bedeutet es konkret, wenn man sagt, ein Teilchen könne gleichzeitig an mehreren Orten sein?
Yabana: In der Quantenphysik hat jedes Teilchen Wellencharakter. Ein Elektron ist also keine winzige Kugel, sondern eher wie eine Wolke – eine sogenannte Wahrscheinlichkeitsverteilung. Diese Wolke beschreibt, wo man das Elektron mit welcher Wahrscheinlichkeit finden kann. Wenn man es misst, „zwingt“ man es dazu, sich an einem bestimmten Ort zu zeigen. Aber das ist nur ein einzelner Moment. Das eigentliche Wesen des Elektrons ist nicht punktförmig, sondern verteilt.
Schultze: Diese Wolke ist keine Messunsicherheit, sondern beschreibt die Realität selbst. Das Elektron ist tatsächlich gleichzeitig in einem bestimmten Raumgebiet vorhanden. Wenn wir messen, reduzieren wir diese Vielschichtigkeit auf eine einzige Position – eine Momentaufnahme, die nicht das ganze Bild wiedergibt. Das ist schwer zu akzeptieren, weil wir gewohnt sind, dass Dinge entweder hier oder dort sind. Aber in der Quantenwelt funktioniert das anders.
Ist das also auch ein Problem unserer menschlichen Wahrnehmung?
Schultze: Absolut. Wir Menschen wollen klare Antworten – ja oder nein, hier oder dort, lebendig oder tot. Quantenobjekte brauchen solche Eindeutigkeit aber nicht. Sie können mehrere Zustände gleichzeitig annehmen, ohne dass das ein Widerspruch ist.
Ich vergleiche das gern mit einer ganz menschlichen Frage: „Bist du glücklich?“ Darauf gibt es selten ein einfaches Ja oder Nein. Wenn ich dich zwinge, nur zwischen diesen beiden Antworten zu wählen, wird das deiner tatsächlichen Gefühlslage kaum gerecht. Genauso ist es mit einem quantenmechanischen System: Wenn wir es fragen, ob es in Zustand A oder B ist, zwingen wir es zu einer Antwort, die viel zu simpel ist, um seine Realität wirklich zu beschreiben.
Yabana: Das ist ein schöner Vergleich. Die Quantenwelt lässt sich nicht in unsere alltäglichen Denkrahmen pressen. Sie zeigt uns, dass die Natur selbst mehrdeutig und gleichzeitig vielfältiger ist, als wir es gewohnt sind.
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Viele Menschen verbinden Quantenphysik nur mit Theorien – hat sie auch praktische Bedeutung im Alltag?
Yabana: Sehr viel mehr, als man denkt. Zum Beispiel das Glühen eines heißen Metalls: Zuerst leuchtet es rot, dann blau, dann weiß. Das lässt sich nur mit Quantenphysik erklären. Auch warum Glas durchsichtig ist oder Metalle Strom leiten, versteht man nur mithilfe quantenmechanischer Modelle.
Schultze: Oder denken Sie an Ihr Smartphone: Die Halbleiter im Display, die LED-Beleuchtung, die Lasertechnik in der Kommunikation – all das basiert auf Quantenphysik. Ohne diese Erkenntnisse gäbe es keine moderne Elektronik. Jede LED, jeder Transistor und jede Solarzelle nutzt quantenmechanische Prinzipien. Wenn Licht auf Materie trifft, wenn Elektronen angeregt werden oder Energie übertragen wird, das sind alles quantenphysikalische Prozesse. Unsere gesamte Technologie hängt davon ab.
Schrödingers Katze steht für die Überlagerung von Zuständen, der sogenannten Superposition. Welche anderen quantenphysikalischen Phänomene sind wichtig?
Schultze: Neben der Superposition ist die Quantisierung von Energie zentral, also die Tatsache, dass Energie nur in festen Portionen, sogenannten Quanten, übertragen werden kann. Außerdem gibt es die Verschränkung: Zwei Teilchen können so miteinander verbunden sein, dass sie sich gegenseitig beeinflussen, egal wie weit sie voneinander entfernt sind. Das klingt nach Science Fiction, ist aber experimentell bestätigt. Auf diesen Prinzipien basieren auch neue Technologien wie Quantencomputer oder Quantenkommunikation.
Yabana: Ein Quantencomputer nutzt im Grunde genau die Eigenschaft, die Schrödingers Katze beschreibt: dass ein System nicht nur Null oder Eins sein, sondern viele Zustände gleichzeitig einnehmen kann. Dadurch kann ein Quantenrechner theoretisch sehr viele Berechnungen parallel durchführen – das macht ihn so leistungsfähig. Es ist also gewissermaßen die technische Anwendung des Katzen-Paradoxons.
Und nun zur entscheidenden Frage: Ist Schrödingers Katze am Ende lebendig oder tot?
Schultze: Aus Sicht der Quantenphysik ist das eine falsch gestellte Frage. Solange wir nicht „nachsehen“, befindet sich das System in einer Überlagerung aus beiden Zuständen. Erst die Beobachtung zwingt es, sich festzulegen. Wir Menschen wollen klare Antworten, aber die Natur selbst scheint damit kein Problem zu haben, mehrdeutig zu sein. Die Quantenphysik zeigt uns, dass Wirklichkeit komplexer ist, als unsere Sprache oder Intuition es zulassen.
Yabana: Und vielleicht ist genau das die schönste Lehre aus Schrödingers Gedankenexperiment: Dass unsere Vorstellung von Realität nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was tatsächlich möglich ist.
Kontakt
Martin Schultze
TU Graz | Institut für Experimentalphysik
Univ.-Prof. Dipl.-Phys. Dr.rer.nat.habil.
Tel.: +43 316 873 8142
schultze@tugraz.at

