Architektur/Publikationen

VOM POTENZIAL VON WIDERSPRÜCHLICHKEITEN

Lisa Yamaguchi (LY) im Gespräch mit Petra Eckhard und Daniel Gethmann (GAM)


© Katarina Lovrić/GAM.Lab, TU Graz

GAM: Lisa, herzlich willkommen an der Architekturfakultät der TU Graz. Wir freuen uns sehr, dass du als neu berufene Professorin für Integral Architecture bei uns bist. Du kommst aus München, bist seit 2019 Partnerin im Architekturbüro Dreisterneplus ***+. Wie hängt die Tätigkeit hier mit der Tätigkeit in deinem Büro zusammen?

LY: Erstmal vielen Dank, ich freue mich auch sehr, hier zu sein. Die Tätigkeit hier hängt mit der Tätigkeit im Büro so zusammen, dass unsere Arbeit im Büro von einer  Arbeitsmethodik geprägt ist, die ich auch hier in der Lehre weitergeben und vermitteln möchte.

GAM: Worin besteht diese Methodik?

LY: Aus einem sehr intensiven Entwurfsprozess, der im Team erfolgt. Wir treffen uns wöchentlich in Entwurfsteams, zwei Leute aus der Geschäftsleitung und ein oder zwei Architekt*innen, die dann in erster Linie daran arbeiten. Alle vier Wochen treffen sich die Geschäftsführer*innen mit dem/der jeweiligen Projektleiter*in, so dass wir immer eingebunden sind und gleichzeitig auch mitsprechen. Das ist sozusagen das offensichtlichste, einfachste Mittel, in einen Dialog zu treten. In einem solchen Dialog steckt auch die Möglichkeit der Dialektik, dass man unterschiedliche Sichtweisen zur Sprache bringt und diskutiert, sowie aussprechen und vermitteln kann, was man meint. Auf diese Weise versuchen wir letztendlich, Lösungen zu finden, die vielleicht auf den ersten Blick nicht einfach sind, aus unserer Sicht aber eine Komplexität oder Tiefe erzeugen von der wir glauben, dass sie zu guter Architektur führt.

GAM: Spannend! Und im Sinne der Dialektik legt ihr Wert darauf, dass es im Dialog Widersprüche gibt?

LY: Ja, das liegt im Wesen der Architektur und natürlich auch in der oftmals sehr komplexen Aufgabenstellung, die nie eindeutig ist. Erst im Aushandeln mit anderen Beteiligten, die vielleicht andere Dinge wichtiger finden als man selbst, findet man eine Lösung, die eben bestenfalls kein Kompromiss ist, sondern Neues entstehen lässt. Für mich ist das der fruchtbare Moment in dem Prozess, in dem man merkt, dass man am Ende etwas findet, was richtig Spaß macht, obwohl man vielleicht zu Beginn nur Probleme gesehen hat.

GAM: Könntest du das an einem Beispiel aus der täglichen Arbeit zeigen?

LY:
Ein Beispiel, das ich dazu immer mal heranziehe, ist der Fassadenentwurf vom „Stadthaus an der Sendlinger Straße“ in München. Wir haben an dieser Einkaufsstraße auch einen Haupteingang zu einem Passagensystem entworfen, das auch gleichzeitig ein Bürobau ist. Der Bauherr hat sich gewünscht, dass die Bürofassade, die sich zwischen historischen, verputzten Fassaden einfügt, nach den heutigen technischen Anforderungen ausgestaltet ist, dass dort durch viel Glas viel Licht hineinkommt. Das war für uns ein Widerspruch: Wie fügen wir uns einerseits in diese steinerne Identität ein und schaffen es trotzdem, viel Licht und Durchlässigkeit zu generieren? Wir haben aus dieser grundsätzlichen Widersprüchlichkeit eine Fassade entwickelt, die aus einem Betonformstein geformt ist und so gemauert werden kann, dass einerseits ein mauerartiger Charakter entsteht, der auch in der Schrägsicht mit einer gewissen Plastizität in der Fassade tatsächlich so zusammenwächst, dass er als steinern und massiv wahrgenommen wird, aber eben gleichzeitig dieses Aufgebrochene und auch Großzügige vom Innenraum her erzeugt, was sich der Bauherr gewünscht hat.

GAM: Wie bringst du diesen entwerferischen Ansatz aus dem Büro an die Universität? Wie kann die Übersetzung in die Lehre und Forschung gelingen?

LY: Der eine Ansatz, den ich jetzt versuche, ist, dass es mir tatsächlich um das Gespräch geht. Ich versuche, eine Gesprächskultur zu entwickeln, die sich bei Studierenden aus meiner Erfahrung gar nicht so leicht von selbst herstellt. Gerade deswegen ist es mir wichtig, dass wir im Studio eine Atmosphäre erzeugen, die dann vielleicht irgendwann mal so wird, als würden wir zusammen in einem Büro arbeiten und dass sich die Studierenden in das Gespräch auch selbst einbringen. Also zu versuchen, in einen Diskurs zu kommen, ist das Eine. Der andere Ansatz, den ich versuche, ist, schon im Keim der Aufgabenstellung ein Potenzial für Widersprüchlichkeiten zu erzeugen. Und ich versuche, mit bestimmten Übungen Entwurfsmethoden zu provozieren, die diese Widersprüchlichkeit auch zulassen und in Überlagerung bringen.

GAM: Worum geht es in deinem aktuellen Entwurfsstudio an der TU Graz?

LY:
Mein aktuelles Entwufsstudio heißt „Reinventing Munich“, die Studierenden sollen einen Stadtteil von München neu erfinden. Ganz konkret wird das südliche Bahnhofsviertel in München behandelt. Wie andere Bahnhofsviertel in größeren Städten Europas ist es ein ziemlich multikulturelles, quirliges Viertel mit vielen Hotels und einem hohen Immigrant*innenanteil. Die Goethestraße, um die es konkret geht, ist das Zentrum der türkischen Gemeinde und wenn man München kennt, weiß man, dass das eigentlich das untypischste Viertel der Stadt ist – weniger aufgeräumt, wie man es sonst von München kennt. Deswegen hat es auch in dem ganzen Stadtteilgefüge seine besondere Berechtigung, steht gleichzeitig aber aktuell unter einem enormen Entwicklungsdruck. Die Gebäude, die da gebaut wurden, sind nach dem Krieg schnell hochgezogen worden. Das heißt, es ist keine Architektur, die typisch für München ist, sie könnte überall stehen, ist monofunktional ausgerichtet und mittlerweile auch in die Jahre gekommen.

GAM: Worin besteht dann der Bezug zur Neuerfindung der Stadt München in dieser Gegend?

LY:
Die ersten Gebäude, die da jetzt neu gebaut werden, sind hauptsächlich Bürogebäude, die alle Nachhaltigkeit verkörpern, was ja einerseits vollkommen richtig und gut ist. Auf der anderen Seite meine ich aber auch zu beobachten, dass das aktuell auch das gängige und einzige Narrativ ist, mit dem eben diese Gebäude auch in die Öffentlichkeit getragen werden. Also wenn schon neu bauen, dann eben aus Holz, sehr transparent und mit viel Grün. So sieht nachhaltige Architektur aus. Und da stelle ich mir die Frage gerade für diesen Ort, den ich sehr gut kenne: ist das jetzt die undiskutierte Antwort für diesen Ort oder wie transformiert sich dieser Stadtteil? Ich komme aus einer Schule, die sehr kontextbezogen gearbeitet hat – da möchte ich Fragen der Identität, der Permanenz, der Überlagerung von unterschiedlichen Geschichten an diesem Ort erforschen. Daraus ergibt sich die Aufgabenstellung, die ich den Studierenden gebe. Was ist an diesem Ort zu finden, welche Geschichten können sich daraus in der Überlagerung entwickeln?

GAM: Das Integrale kommt bei dir insofern auf verschiedenen Ebenen vor – einerseits über den Kontext und andererseits über die Methode des Dialogs mit den Studierenden?

LY: Ja, genau. Mir geht es um das Gesamtheitliche, nicht um das Nebeneinander von möglichst vielen Dingen technischer Natur, die vielleicht viel können, aber doch keine kohärente Ganzheitlichkeit erreichen.

GAM: Gibt es dann auch einen Dialog mit den Leuten aus dem Viertel dort?

LY:
Noch nicht, ich bin gerade dabei, das zu versuchen. Es gibt schon einen Verein mit vielen Initiativen. Mittlerweile sind auch Kulturschaffende und ein Theater da. Ich muss mal schauen, wie weit ich da komme.

GAM: Dein integraler Ansatz scheint einer zu sein, der sich stark auf die Integration von Kontexten bezieht und gleichzeitig auch versucht, den Entwurf nicht nur als Einzelarbeit, sondern unter Berücksichtigung vieler anderer Aspekte zu entwickeln. Integral ist allerdings – wie so vieles im Architekturdiskurs – ein ziemlicher Modebegriff. Die einen sagen, wir müssen uns, wenn wir über Integral Architecture sprechen, eher in Richtung Nachhaltigkeit des Bauens ausrichten, die anderen warnen vor der nächsten Krise der Bauindustrie, die sich bereits bemerkbar macht. Was ist deiner Meinung nach notwendig, um in der Architekturausbildung auf diese Szenarien zu reagieren?

LY:
Erstmal möchte ich versuchen, die Krise im Positiven umzudeuten. Ich empfinde das als die zentrale Aufgabe unserer Zeit, die Krise ernst zu nehmen und zu versuchen, mit jedem unserer Entwürfe auf dieses wichtige Thema zu reagieren. Ich verstehe diese Zeit des Paradigmenwechsels als eine Zeit des Umdenkens, in der eine Dynamik entsteht, die Dinge anders zu machen, als man sie die letzten Jahrzehnte gemacht hat. Und das begreife ich auch ein Stück weit als Chance. Ganz grundsätzlich glaube ich trotzdem in der Architekturausbildung nach wie vor an die „Kernkompetenz der Architekt*innen“, die sich mit Raum, mit Körperhaftigkeit, mit Nutzbarkeit der Atmosphäre, mit Häusern für Menschen befasst. Darüber hinaus glaube ich, dass auch das Entwerfen als eine weitere Kernkompetenz von Architekt*innen eigentlich ein wunderbares Tool für alle möglichen Fragestellungen ist. Im Moment sehe ich eine große Chance darin, dass baukulturell ein Umdenken hin zu einer Umbaukultur stattfindet, dass man vielleicht ein Stück weit das Arbeiten mit dem Bestehenden trainiert, also mit Dingen, die schon vorhanden sind, und dass man lernt, zu beobachten, zu sammeln, zu vergleichen, neu zusammenzusetzen. Ich versuche das in einzelnen Entwurfsübungen konkret umzusetzen, also im weitesten Sinne mit den Werten des Bestehenden zu arbeiten, zum Beispiel in Form von Umbaumaßnahmen oder durch das Bauen mit wiederverwendeten Bauteilen. Es können aber auch Geschichten sein, die man findet und weitererzählt oder das Arbeiten mit assoziativen Werten von Architektur. Zuletzt glaube ich, dass das Entwerfen mit Referenzen gerade jetzt eine wichtige Hilfe sein kann, damit wir im Hinblick auf die großen Aufgaben, vor denen wir stehen, nicht aus der Geschichte fallen.

GAM: Du hast ja jetzt knapp zwei Jahre Zeit, diese Vorhaben umzusetzen, das ist ja durchaus eine lange Zeitspanne für eine Gastprofessur. Worauf können wir uns in den nächsten zwei Jahren freuen?

LY:
Das Ziel ist auf jeden Fall eine Publikation, die nicht nur eine Sammlung von Entwürfen ist, die die Studierenden in den letzten zwei Jahren gemacht haben, sondern die im besten Fall auch die von mir gerade beschriebenen Methoden in Form von Entwurfsprozessen ablesbar macht. Und da erhoffe ich mir, aus jedem Semester ein Stück weit zu lernen und meinen Ansatz weiter zu präzisieren, damit das irgendwann eine gesamtheitliche Geschichte ergibt. Spannend wäre, wenn dieses Vorhaben, das ich beschrieben habe, anhand von Referenzen und einer Offenlegung der Arbeit – mit was habe ich gearbeitet, was waren meine Fundstücke, was hat mich interessiert – dann zu Entwürfen führen würde und man innerhalb von diesen Bildern ablesen kann, wie diese Entwürfe entstanden sind.

GAM: Wie bekommt ihr diese Fundstücke in die Hand? Ist es ein Text, sind es Bilder, oder ist es ein konkretes Objekt von dem jeweiligen Ort?

LY: Wir hoffen durch eine Exkursion, über das Reisen, das Beobachten – mit fremdem Blick auf eine neue Stadt gerichtet – etwas zu finden. Da geht es schon darum, auch Skurriles zu beobachten; Fundstücke sollte man sich auch selber, im Hinblick auf seine eigene Interpretation der Aufgabe hin, suchen.

GAM: Wie werden die Fundstücke dann im Entwerfen verwendet?

LY:
Es gibt zahlreiche spezielle Themen, die sich im Entwurfsprozess ergeben. Man redet ja gerade viel über das „Narrativ“ ­– nicht nur in der Architektur – und darüber, dass es sehr wichtig wird, eine Geschichte zu erzählen – in Form von Bildern, auch über Social Media. Bezogen auf die Architektur bin ich immer auf der Suche nach dem, was man Poesie nennt, die ja auch eine Form der Erzählung ist; nicht in Form der schnellen, offensichtlichen Magazinabbildung, sondern von etwas, das mehr Tiefe entwickelt und vielschichtiger ist. Wenn wir dazu einen Link hinbekämen, wäre ich glücklich.

GAM: Danke für das Gespräch!