Seoul Megacity – Best Before?

Thomas Untersweg

Als einer der fünf Tigerstaaten wurde Korea durch die rasante Transformation von einer ruralen Gesellschaft zu einem der am stärksten urbanisierten Länder der Welt geprägt. In den Folgejahren des Koreakrieges führte die autoritäre Exportpolitik zu rapidem ökonomischen Wachstum und damit einhergehend zum radikalen Umbruch. Heute leben mehr als 80 Prozent der Gesamtbevölkerung Koreas in Städten. Der Blick auf asiatische Metropolen ist vor allem aufgrund der Dimension und Geschwindigkeit dieser Prozesse interessant. Eine neue Wohntypologie – der Apartment-Komplex – war der Schlüssel zum ersehnten Fortschritt: dem Wunder vom Han. Die Produktion von Raum hat in Korea bis heute höchste Priorität. In der vorliegenden Arbeit werden die Rahmenbedingungen zur Entstehung und Ausbreitung der Apartmenttypologie untersucht. Mögliche Vorbilder werden nicht nur in städtebaulicher, sondern auch in soziopolitischer Hinsicht analysiert. Die standardisierte Produktion des Raumes ermöglicht zwei wichtige Neuerungen der koreanischen Architekturproduktion: Geschwindigkeit und (bzw. durch) Homogenität. Die Monotonie der Wohnbehälter wurde mithilfe eines raffinierten Markensystems klassifiziert. Diese hierarchische Einordnung der Gesellschaft über Komplex-Embleme wird zum Rückgrat des modernen Koreas. Die Folgen dieser rasanten Entwicklung sind offensichtlich: Das Apartment frisst die Stadt, kann aber ohne sie nicht existieren. Die Ausbreitung der Komplexe gefährdet ihre eigene Zukunft. Ersetzt die periphere Typologie der Komplexe weiterhin den Bestand Seouls, wird aus der Metropole eine Vorstadt. Die ambivalente Position zwischen Ablehnung und Bewunderung erschwert eine objektive Beurteilung der Apartment-Komplexe. In Anlehnung an Henri Lefèbvres Räume der Repräsentation wird eine weitere Wahrnehmungsebene zur Analyse der Komplexe eingeführt. Der gelebte Raum zeigt aktuelle sozio-urbane Prozesse auf und ermöglicht einen tieferen Einblick in die Hintergründe der Apotheose der Apartment-Komplexe. Welche Rolle hat Architektur im Zuge der rasanten Transformation asiatischer Städte noch? Die gesellschaftliche Relevanz der Disziplin wird im Apatudrom sichtbar. Die traditionelle Rolle der Architektur wird in der koreanischen Realität aufgelöst. Architektur könnte erneut ein Dazwischen in Seouls urbaner Landschaft einführen, das von den Komplexen beinahe ausgerottet wurde. Das Potential der Disziplin würde nicht in der Produktion, sondern in der Erhaltung und Stärkung von Leerräumen und Nicht-Orten liegen. Dies würde einen Wandel weg von einer aktiv bauenden, hin zu einer beobachtenden Rolle der Disziplin bedeuten. Architektur wäre zurück in der Realität. Als Hyperbel bildet das Apatudrom in Form eines Gesellschaftsspiels den Schluss der Arbeit. Dieser fiktive Entwurf ist eine kritische Bestandsaufnahme der vorhandenen Praxis. Durch die Übersteigerung der analysierten Systeme der Wirklichkeit wird ein surreales Produkt erzeugt, das die Funktionsweise der Apartmentkultur verdeutlicht. Das Apatudrom steht genau zwischen Konfuzius und Kapitalismus. Soziale Probleme des Systems werden im OECD-Vergleich deutlich: Überalterung der Bevölkerung, eine niedrige Geburtenrate, Anonymität, eine rasant steigende Selbstmordrate. Nach stetigem Wachstum seit 1950 schrumpfte Seouls Bevölkerung 2011 erstmals. Die Diversifikation einer der homogensten Gesellschaften der Welt bringt die hegemoniale Wohnform in Bedrängnis. Kann der Apartment-Komplex auf bevorstehende gesellschaftliche Veränderungen reagieren? Der große Aufschwung Koreas, das Fundament des kollektiven Stolzes, ist Geschichte. Seoul – Best Before?   

Die Diplomarbeit Seoul Megacity – Best Before? vom Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften (Anselm Wagner) betreut.